SG/2077
2. August 2002
Bericht des Generalsekretärs über die Ereignisse in Dschenin und anderen Plästinensischen Städten
NEW YORK, 1. August - Die Vereinten Nationen haben heute den Bericht des Generalsekretärs über die Ereignisse in Dschenin und in anderen palästinensischen Städten veröffentlicht. Der Bericht wurde im Auftrag der UNO-Generalversammlung (Resolution ES-10/10 vom 7. Mai 2002) verfasst, nachdem der Generalsekretär eine Ermittlungsgruppe, die er als Fact-Finding-Mission vor Ort entsenden wollte, wieder aufgelöst hatte. Der Sicherheitsrat hatte der Entsendung dieser Gruppe am 19. April 2002 (Resolution 1405) zugestimmt.
Der Bericht wurde daher ohne Besichtigung in Dschenin oder in anderen palästinensischen Städten abgefasst. Er gründet sich, wie von der Generalversammlung gefordert, auf "verfügbare Quellen und Informationen", darunter auf Eingaben von sechs Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen und Beobachtermissionen, auf öffentlich zugängliche Dokumente und auf Arbeitspapiere von Nichtregierungsorganisationen, die sich mit zahlreichen Perspektiven der Ereignisse befassen. Während die Palästinensische Autonomiebehörde Informationen zur Verfügung stellte, kamen keine Informationen von der israelischen Regierung. Um ein möglichst umfassendes Bild von den Ereignissen zu vermitteln, hat der Bericht auf öffentlich verfügbare Informationen der israelischen Regierung zurückgegriffen.
Der Bericht erstreckt sich auf den Zeitraum von Anfang März bis zum 7. Mai 2002. Er umreißt die Zusammenhänge und den Hintergrund der Lage in Israel und in den besetzten palästinensischen Gebieten und beschreibt die Zuständigkeiten beider Parteien für Sicherheits-, humanitäre und Menschenrechtsfragen. Der Bericht zeichnet in geraffter Form die seit September 2000 zunehmende Gewalt nach, die bis zum 7. Mai 2002 441 Tote auf israelischer und 1.539 Tote auf palästinensischer Seite forderte.
Vor diesem Hintergrund fand die Operation "Verteidigungsschild" statt, das in den letzten 10 Jahren extensivste militärische Vordringen Israels. Als auslösender Faktor dieses militärischen Einsatzes wird der Terroranschlag vom 27. März in Netanya genannt, bei dem 28 Personen getötet und 140 verletzt wurden. Die Operation begann am 29. März mit dem militärischen Einfall in Ramallah, gefolgt vom Eindringen des Militärs in Tulkarm und Qalqilya am 1. April, in Bethlehem am 2. April und in Dschenin und Nablus am 3. April. Ab 3. April waren sechs der größten Städte im Westjordanland und deren umliegende Dörfer und Flüchtlingslager durch das israelische Militär besetzt worden.
Die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) kündigten am 21. April das offizielle Ende der Operation "Verteidigungsschild" an, aber die Folgen dieses Einsatzes waren noch länger spürbar. Ein Großteil der Kämpfe fand in dicht bevölkerten Zivilgebieten statt, vor allem da die von den IDF-Einheiten gesuchten bewaffneten palästinensischen Gruppen ihre Kombattanten und Einrichtungen unter der Zivilbevölkerung unterbrachten. In vielen Fällen wurde schweres Gerät eingesetzt. Dadurch wurde besonders die Stadtbevölkerung schwer in Mitleidenschaft gezogen.
Der Bericht hebt im Einzelnen folgende wesentlichen Elemente der Ereignisse hervor:
Terroranschläge aus palästinensischen Städten
Der Bericht geht auf Klagen der israelischen Regierung ein, wonach eine Reihe von Städten als Basis für bewaffnete Gruppen gedient haben, die Terroranschläge gegen Israel durchführten. So erhob Israel etwa die Beschuldigung, dass zwischen Oktober 2000 und April 2002 vom Lager Dschenin aus insgesamt 28 Selbstmordanschläge geplant und durchgeführt worden seien. Nach dem Einfall in das Lager haben die Israelischen Verteidigungskräfte dort gefundene Dokumente, sowie Einzelheiten über Waffenlager und Sprengstofflaboratorien veröffentlicht.
Verhalten militanter Palästinenser während der militärischen Einfälle
Der Bericht weist darauf hin, dass bewaffnete palästinensische Gruppen zahlreiche Häuser der Zivilbevölkerung mit Sprengfallen versehen haben sollen, die zwar in erster Linie gegen das israelische Militär gerichtet gewesen seien, aber auch die Zivilbevölkerung in Gefahr gebracht hätten. Er zitiert auch die Palästinensische Autonomiebehörde, die einräumte, dass sich eine Reihe von palästinensischen Kämpfern dem militärischen Angriff Israels widersetzt haben.
Verhalten der Israelischen Verteidigungskräfte während der militärischen Einfälle
Der Bericht nimmt auch Bezug auf Angaben der Palästinensischen Autonomiebehörde und einiger Menschenrechtsorganisationen, wonach die IDF im Zuge ihrer Operationen illegal Menschen getötet, Menschen als Schutzschilder misshandelt, unverhältnismäßig hohe Gewalt angewendet, willkürliche Verhaftungen und Folterungen vorgenommen und die ärztliche Versorgung von Verletzten unterbunden haben sollen. Dazu führte der Bericht folgende Beispiele an:
Todesopfer: Im Zuge der Wiederbesetzung palästinensischer Gebiete wurden in der Zeit zwischen 1. März und 7. Mai, sowie in den Tagen unmittelbar danach 497 Palästinenser getötet und 1.447 verwundet. Nach den meisten Schätzungen wurden 70 bis 80 Palästinenser, darunter rund 50 Zivilpersonen, in Nablus getötet. Die Israelischen Verteidigungskräfte verloren dort vier Soldaten. Im Lager Dschenin gab es zum Zeitpunkt des Abzuges der IDF und der Aufhebung der Ausgangssperre am 18. April zumindest 52 tote Palästinenser - darunter rund die Hälfte Zivilpersonen - und 23 tote israelische Soldaten. Angaben der Palästinensischen Autonomiebehörde Mitte April, wonach mehr als 500 Personen im Lager Dschenin getötet worden sein sollen, ließen sich nachträglich nicht durch Beweise erhärten.
Willkürliche Verhaftungen und Festnahmen: Bis 6. Mai sollen mutmaßlich 7.000 Palästinenser im Verlauf der Operation "Verteidigungsschild" verhaftet worden seien. Zahlreiche Häftlinge seien längere Zeit und mit so gut wie keinem Kontakt nach außen festgehalten worden. Sehr häufig sollen die IDF über Lautsprecher alle männlichen Personen im Alter zwischen 15 und 45 Jahren aufgefordert haben, sich zu stellen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurde eine große Anzahl der verhafteten Männer mit Augenbinden versehen und mit Handschellen gefesselt; sie erhielten keine Erlaubnis zur Benützung einer Toilette und erhielten am ersten Tag ihrer Haft weder Nahrung noch Decken.
Menschliche Schutzschilder: In zahlreichen Berichten wird darauf verwiesen, dass die IDF palästinensische Zivilpersonen zwangen, sie bei ihren Hausdurchsuchungen und bei der Kontrolle verdächtiger Personen zu begleiten, im Schussfeld zu stehen oder Soldaten auf andere Weise vor Gefahren zu schützen. Zeugen behaupten, dieses Vorgehen im Lager Dschenin und in anderen palästinensischen Städten beobachtet zu haben. Die israelische Regierung hat zwar den Vorwurf zurückgewiesen, dass Angehörige des Militärs diese Praxis systematisch verfolgten, aber am 5. Mai einen eindeutigen Befehl erteilt, der es "Einheiten im Einsatz strikt untersagt, Zivilpersonen als 'lebende Schilder' zu verwenden".
Unverhältnismäßige und wahllose Zerstörungen: Die Operation "Verteidigungsschild" hat zur weitreichenden Zerstörung von privatem und öffentlichem palästinensischen Eigentum geführt. Nach Berichten sollen die IDF Bulldozer, Panzer und Granatwerfer sowie einige Male auch Kampfhubschrauber in Wohngebieten eingesetzt haben. Dabei sollen mehr als 2.800 Flüchtlingswhonungen schwer beschädigt und 878 Wohnhäuser gänzlich zerstört worden sein. Mehr als 17.000 Menschen wurden dadurch obdachlos oder mussten Nothilfe zur Wiederherstellung ihrer Unterkünfte in Anspruch nehmen. Besonders schwere Sachschäden wurden in Nablus angerichtet, vor allem in der Altstadt, in der viele Gebäude von hoher kultureller, religiöser oder geschichtlicher Bedeutung stehen.
Vernichtung von Zivileigentum der Palästinensischen Autonomiebehörde: Hilfswerke der Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen haben bei ihren Besuchen in Ramallah und in anderen palästinensischen Städten, sobald diese wieder erlaubt waren, extensive Schäden an Zivileigentum der Palästinensischen Autonomiebehörde dokumentiert. So wurden Bürogeräte wie Computer und Fotokopiermaschinen, die offensichtlich keinen militärischen Zwecken dienten, zerstört. Die IDF leugneten zwar, dass solche Schäden systematisch angerichtet wurden, räumten aber ein, dass es einige Fälle von Vandalismus gegeben habe. Entsprechende Verfahren seien eingeleitet worden.
Ausgangssperren und Abriegelungen: Ausgangssperren rund um die Uhr wurden in Städten, Flüchtlingslagern und Dörfern verhängt. Davon waren rund eine Million Menschen betroffen. 220.000 Stadtbewohner mussten Ausgangssperren von über einer Woche Dauer erdulden, ohne lebenswichtige Vorräte einkaufen oder ärztliche Versorgung in Anspruch nehmen zu können. Die von den IDF in Nablus am 3. April verhängte Ausgangssperre wurde erst am 22. April zur Gänze wieder aufgehoben.
Verweigerung humanitärer Hilfe: Während und unmittelbar nach den militärischen Einfällen hat die Zivilbevölkerung, so der Bericht, lange Verzögerungen bei der ärztlichen Versorgung der Verwundeten und Kranken hinnehmen müssen. Vor allem in Dschenin verhandelten die Vereinten Nationen und andere humanitäre Organisationen vom 11. bis 15. April mit den IDF über den Zugang zum Lager. Wiederholt wurden Versuche unternommen, Versorgungskonvois in die Lager zu schicken, aber alle Anstrengungen schlugen fehl. Zahlreiche Berichte der Menschenrechtsgruppen weisen nach, dass verwunderte Zivilpersonen oft Tage auf ärztliche Hilfe warten mussten, während IDF-Soldaten jegliche Behandlung der Verwundeten und Kranken verweigerten. Eine Reihe von Menschen starben, da die ärztliche Versorgung zu spät kam.
Angriffe auf Krankenwagen: Der Bericht zitiert drei konkrete Vorfälle, bei denen israelische Soldaten Krankenwagen beschossen haben. Am 4. März (vor dem Einfall in Dschenin) wurde der Leiter des Notdienstes der Palästinensischen Gesellschaft vom Roten Halbmond in Dschenin von einer Granate getötet, die von einem israelischen Panzer auf den eindeutig gekennzeichneten Ambulanzwagen abgefeuert wurde. Am 7. März wurde ein Mitarbeiter des UNO-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) durch einen Schuss getötet, während er mit einem Krankenwagen des Hilfswerks in der Nähe von Tulkram im Westjordanland unterwegs war. Und am 8. April wurde neuerlich das Feuer auf einen Krankenwagen der UNRWA eröffnet, als dieser versuchte, einem verwundeten Mann in Dschenin zu Hilfe zu kommen. Die israelische Regierung behauptete, dass die Ambulanzwagen für den Transport von Terroristen und Waffen verwendet worden seien.
Israelische Todesopfer vom 1. März - 7. Mai
Nach Angaben des israelischen Außenministeriums haben die IDF während der Operation "Verteidigungsschild" 30 Soldaten verloren. Israel erlitt von Anfang März bis 7. Mai 16 terroristische Bombenanschläge, zum größten Teil Selbstmordattentate. Dabei wurden über 100 Personen Getötet und wesentlich mehr verletzt.
Die Auswirkungen insgesamt
Die Zivilbevölkerung in den besetzten palästinensischen Gebieten muss weiterhin schwere Härtefälle erdulden, die sich zum Teil seit den geschilderten Ereignissen noch weiter verschärft haben. So gut wie die gesamte Produktionstätigkeit ist in den wichtigsten Fabriken, Baustellen, Handelsbetrieben und öffentlichen wie privaten Dienstleistungseinrichtungen im Westjordanland zum Stillstand gekommen. Der drastische rückläufige Lebensstandard in diesen Gebieten während der letzten 18 Monate wurde dadurch noch schlechter. Die Vereinten Nationen haben kein Mandat, um die Verhältnisse in Israel zu überwachen und darüber Bericht zu erstatten, wie dies etwas in den besetzen palästinensischen Gebieten der Fall ist. Daher liegen der Weltorganisation keine eingehenderen Informationen über weitreichende Auswirkungen der Ereignisse auf die Gesellschaft und Wirtschaft Israels vor. Aber es muss davon ausgegangen werden, dass auch die israelische Bevölkerung in dieser Zeit als Folge des Terrorismus großes Leid ertragen musste und dass auch die israelische Wirtschaft großen Schaden genommen hat.
Abschließend betont der Bericht, dass eine vollständige und umfassende Darstellung der Ereignisse in Dschenin und in den anderen palästinensischen Städten ohne die volle Zusammenarbeit beider Parteien und ohne einen Besuch vor Ort nicht möglich war. Der Generalsekretär zeigte sich jedoch überzeugt, dass "der Bericht ein faires Bild von der komplexen Realität gemalt hat" und dass die geschilderten Ereignisse verdeutlichten, wie dringend die Parteien zum Friedensprozess zurückkehren müssen.
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HINWEIS FÜR JOURNALISTEN: Den vollständigen Text des Berichtes finden Sie im Internet auf der
Web-Site der Vereinten Nationen unter
http://www.un.org/peace/jenin/index.html