SG/SM/8159
SC/7325
13. März 2002

Generalsekretär Kofi A. Annan:

Palästinenser und Israeli müssen ihre Völker aus der Katastrophe herausführen

NEW YORK, 12. März -- UNO-Generalsekretär Kofi Annan hat im Sicherheitsrat folgende Erklärung zur Lage im Nahen Osten abgegeben:

Vor drei Wochen habe ich den Sicherheitsrat über die Lage im Nahen Osten informiert. Ich habe damals davor gewarnt, dass wir am Rande eines Abgrund stehen. Seither ist die Zahl der Toten und Verwundeten - vor allem unter der unschuldigen Zivilbevölkerung - auf eine Grössenordnung angestiegen, die ohne Übertreibung nur als zutiefst erschreckend bezeichnet werden kann.

Die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern sind an einem Siedepunkt angelangt. Wir stehen vor der schlimmsten Lage der letzten zehn Jahre. Eskalation folgte auf Eskalation, wobei wenig, in manchen Fällen gar keine, Rücksicht auf unschuldige zivile Menschenleben genommen wurde. Praktisch jeden Tag werden Handlungen gesetzt, die in ihrem Ausmass unverhältnismässig und in ihrer Wirkung wahllos sind.

Das Ausmass dieses Blutbades ist schrecklich. Seit dem Beginn der gegenwärtigen Krise im September 2000 hat es rund 1.200 Opfer unter den Palästinensern gegeben. Mehr als 180 mussten allein in den letzten zehn Tagen ihr Leben lassen. Auf israelischer Seite fielen in den gleichen zehn Tagen 50 der insgesamt rund 350 Opfer an. Ich trauere wie wir alle mit den Familien, die ihre Lieben verloren haben oder deren Angehörigen verstümmelt oder verwundet wurden. Ich trauere für Israel und für Palästina.

Mit der Vorlage meiner Beurteilung der Lage vor Ort möchte ich zunächst sagen, dass ich zutiefst beunruhigt darüber bin, dass Israel schwere Waffen in zivilen Wohngebieten einsetzt. Das hat das Leben der palästinensischen Zivilbevölkerung, die ohnedies bereits unter schwerem physischen und wirtschaftlichen Druck steht, noch schwieriger und gefährlicher gemacht.

Grossangelegte Militäreinsätze zur Verfolgung militanter Palästinenser unter Einsatz von Bodentruppen, Kampfhubschraubern, Panzern und F-16 haben in zivilen Wohngebieten und Flüchtlingslagern im Westjordanland und in Gaza stattgefunden und zahlreiche Menschenleben gefordert. Darüber hinaus berichten des Internationale Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen, dass die israelischen Verteidigungskräfte zunehmend die Sicherheit des ärztlichen Hilfspersonals und der Ambulanzen missachten, die versuchen, die Verwundeten zu behandeln oder aus den Konfliktzonen zu evakuieren. Erst in der Vorwoche ist ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen in einer eindeutig gekennzeichneten Ambulanz des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) getötet worden.

Andererseits haben auch die Palästinenser ihren vollen Teil an der Eskalierung des Teufelskreises von Gewalt, Gegengewalt und Rache zu verantworten. Palästinensische Gruppen haben eine Reihe von Anschlägen auf israelische Militäreinrichtungen und zivile Ziele ausgeführt. Sie haben Kontrollpunkte der israelischen Verteidigungskräfte und Siedlungen im Westjordanland und in Gaza angegriffen. Kassam II- Raketen wurden gegen zivile Wohngebiete in israelischen Städten abgefeuert. Besonders bestürzt bin ich über die Selbstmordanschläge, die sich vorsätzlich gegen Zivilpersonen richten und Angst und Schrecken unter der gesamten Bevölkerung hervorrufen.

Vor diesem Hintergrund begrüsse ich ausserordentlich den Beschluss der Vereinigten Staaten, General Zinni neuerlich in die Region zu entsenden. Sowohl Präsident Arafat als auch Ministerpräsident Sharon haben Schritte unternommen, um seine Bemühungen zu erleichtern. Arafat hat schliesslich alle Verdächtigen im Zusammenhang mit der Ermordung des israelischen Fremdenverkehrsministers Rehevam Zeevi verhaften lassen. Sharon hat vernünftigerweise seine Forderung nach einer siebentägigen Waffenruhe als Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen fallen lassen.

Ich hoffe, dass sich beide Politiker konstruktiv mit General Zinni um einen erneuten und verstärkten Dialog über die politischen, Sicherheits- und wirtschaftlichen Dimensionen des Friedensprozesses bemühen werden. Die Alternative wäre für beide Seiten ein weiteres Blutbad und damit eine noch weitere Verzögerung der Aussichten auf ein Ende der Besetzung und der Gewalt.

Ich möchte mich jetzt direkt an die Bevölkerung und die Politiker der beiden Seiten wenden.

Den Palästinenser sage ich: Sie haben das unveräusserliche Recht auf einen lebensfähigen Staat innerhalb von sicheren und international anerkannten Grenzen. Aber Sie müssen mit allen Terroranschlägen und allen Selbstmordbomben aufhören. Der vorsätzliche und wahllose Angriff auf Zivilpersonen ist moralisch abstossend. Das schadet Ihrer Sache ausserordentlich, denn es schwächt die internationale Unterstützung und veranlasst die Israelis zu glauben, dass Sie gegen ihre Existenz als Staat und nicht gegen die Besetzung kämpfen.

Den Israelis sage ich: Sie haben das Recht in Frieden und Sicherheit innerhalb von sicheren und international anerkannten Grenzen zu leben. Aber Sie müssen die illegale Besetzung beenden. Noch dringender müssen Sie mit der Bombardierung ziviler Wohngebiete, mit den Mordanschlägen, mit der unnötigen tödlichen Gewalt, mit der Zerstörung von Gebäuden und mit der täglichen Erniedrigung der einfachen Palästinenser aufhören. Mit diesen Massnahmen untergraben Sie nur das Ansehen Israels in der internationalen Gemeinschaft und schüren weiter den Hass, die Verzweiflung und den Extremismus unter der Palästinensern.

Den Politikern beider Seiten, vor allem Ministerpräsident Sharon und Präsident Arafat sage ich: Sie können Ihre Völker aus der Katatsrophe herausführen. Sie haben den Tenet-Plan und die Mitchell-Empfehlungen als Grundlage für Verhandlungen angenommen. Heute muss Ihnen mehr denn je klar sein, dass Sicherheit und eine politische Lösung untrennbar sind. Das eine hat ohne das andere keinen Bestand. Viele ihrer Freunde stehen bereit, um Sie zu unterstützen, wenn Sie diese Chance ergreifen.

Abschliessend lassen Sie mich darauf hinweisen, dass die jüngste Initiative von Kronprinz Abdullah von Saudi Arabien eine klare und überzeugende Friedensvision im Nahen Osten auf der Grundlage der Sicherheitsratsresolutionen 242 (1967) und 338 (1973) aufgezeigt hat. Ich appelliere an die Führer der arabischen Welt, die Friedenssuche nicht aufzugeben, sondern sich vereint hinter diese Vision zu stellen und der Welt - und den Konfliktparteien - zu zeigen, dass es eine Alternative zum Krieg gibt.

Ich rufe Herrn Arafat und Herrn Sharon auf, unverzüglich die erforderlichen politischen, Sicherheits- und wirtschaftlichen Schritte vor Ort zu unternehmen, die dazu beitragen können, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Schliesslich rufe ich den Sicherheitsrat auf, sich mit seiner vollen Autorität und seinem ganzen Einfluss hinter diese lebenswichtige Sache des Friedens zu stellen.

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