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UNIS/INF/586
15. November 2022

Acht Milliarden Menschen – eine Menschheit.

von António Guterres

Mitte November wird die Weltbevölkerung 8 Milliarden zählen – ein Zeugnis wissenschaftlicher Durchbrüche und Fortschritte im Bereich der Ernährung, der Gesundheit und der Sanitärversorgung. Je mehr die Menschheit jedoch wächst, desto tiefer werden auch die Gräben.

Milliarden von Menschen kämpfen ums Überleben. Hunderte Millionen hungern oder drohen zu verhungern. Auf der Suche nach neuen Chancen und einem Ausweg aus Verschuldung und Not, Krieg und Klimakatastrophen verlassen so viele Menschen wie nie zuvor ihre Heimat.

Wenn wir es nicht schaffen, die klaffende Kluft zwischen Arm und Reich zu überwinden, werden wir uns auf eine Welt einstellen müssen, in der 8 Milliarden Menschen inmitten von Spannungen und Misstrauen, Krisen und Konflikten leben.

Die Fakten sprechen für sich. Eine Handvoll Milliardäre besitzt so viel wie die ärmsten 50 Prozent der Weltbevölkerung. Ein Fünftel des Welteinkommens landet in den Taschen des reichsten Prozents der Weltbevölkerung, und die Lebenserwartung der Menschen in den wohlhabendsten Ländern liegt um bis zu 30 Jahre höher als die der Menschen in den ärmsten Ländern. In dem Maß, in dem Reichtum und Gesundheit in den letzten Jahrzehnten weltweit zugenommen haben, sind auch diese Ungleichheiten gewachsen.

Zusätzlich zu diesen langfristigen Trends verschärfen die sich beschleunigende Klimakrise und die ungleiche Erholung von der COVID-19-Pandemie die Ungleichheit noch mehr. Weiter steigende Emissionen und Temperaturen führen uns geradewegs in die Klimakatastrophe. Überschwemmungen, Stürme und Dürren verwüsten Länder, die selbst fast nichts zur Erderwärmung beigetragen haben.

Der Krieg in der Ukraine verschlimmert die anhaltenden Ernährungs-, Energie- und Finanzkrisen und trifft Entwicklungsländer am härtesten. Die Ungleichheiten treffen vor allem Frauen und Mädchen sowie marginalisierte Gruppen, die ohnehin schon unter Diskriminierungen leiden.

Zahlreiche Länder des globalen Südens sind hoher Verschuldung, wachsender Armut und Hunger und den immer stärker werdenden Auswirkungen der Klimakrise ausgesetzt. Sie haben kaum eine Chance, in eine nachhaltige Erholung von der Pandemie, in den Übergang zu erneuerbaren Energien oder in Bildungs- und Schulungsmaßnahmen für das digitale Zeitalter zu investieren.

Wut und Ressentiments gegenüber den entwickelten Ländern drohen zu explodieren.

Toxische Spaltungen und mangelndes Vertrauen führen bei einer Vielzahl von Themen zu Verzögerungen und Stillstand – in der nuklearen Abrüstung ebenso wie im Bereich der Terrorismusbekämpfung und der globalen Gesundheit. Wir müssen diesen schädlichen Entwicklungen Einhalt gebieten, Beziehungen reparieren und gemeinsame Lösungen für gemeinsame Probleme finden.

Als Erstes gilt es anzuerkennen, dass die ausufernde Ungleichheit kein Schicksal, sondern eine Entscheidung ist, für deren Umkehr die entwickelten Länder die Verantwortung tragen. Einen Anfang können sie bereits in diesem Monat machen – auf der 27. UN-Klimakonferenz in Ägypten und auf dem G20-Gipfel in Bali.

Ich hoffe, dass die Klimakonferenz in einen historischen Klimasolidarpakt münden wird, in dem sich die entwickelten und die aufstrebenden Volkswirtschaften auf eine gemeinsame Strategie einigen und ihre Kapazitäten und Ressourcen zum Wohl der Menschheit bündeln. Die wohlhabenderen Länder müssen zentrale Schwellenländer finanziell und technisch bei der Abkehr von fossilen Brennstoffen unterstützen. Darin ruht unsere einzige Hoffnung, unsere Klimaziele zu erreichen.

Außerdem fordere ich die Staats- und Regierungsoberhäupter, die auf der 27. Klimakonferenz zusammenkommen, nachdrücklich auf, sich auf einen Fahrplan und einen institutionellen Rahmen zu einigen, um die Länder des globalen Südens für klimabedingte Verluste und Schäden, die bereits jetzt enormes Leid verursachen, zu entschädigen.

Der G20-Gipfel in Bali ist eine Gelegenheit, die Notlage der Entwicklungsländer anzugehen. Ich habe den G20-Staaten eindringlich nahegelegt, ein Konjunkturprogramm zu beschließen, das den Regierungen des globalen Südens Investitionen und Liquidität bereitstellt und die Frage von Schuldenerleichterung und Umstrukturierung in Angriff nimmt.

Während wir auf eine Umsetzung dieser mittelfristigen Maßnahmen dringen, arbeiten wir gleichzeitig mit allen beteiligten Akteuren unablässig daran, die globale Ernährungskrise zu entschärfen.

Die Schwarzmeer-Initiative zur Ausfuhr von Getreide ist ein zentraler Bestandteil dieser Bemühungen. Sie trägt dazu bei, die Märkte zu stabilisieren und Nahrungsmittelpreise zu senken. Jeder Bruchteil eines Prozents kann Hunger lindern und Menschenleben retten.

Zudem arbeiten wir daran, dass Düngemittel aus Russland auf die globalen Märkte gelangen können, die der Krieg schwer beeinträchtigt hat. Die Düngemittelpreise sind bis zu drei Mal so hoch wie vor der Pandemie. Am stärksten wirkt sich das auf Reis aus, das weltweit meistkonsumierte Grundnahrungsmittel.

Die Beseitigung der restlichen Hindernisse für die Ausfuhr russischer Düngemittel ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu globaler Ernährungssicherheit.

Neben all diesen ernsten Herausforderungen gibt es aber auch Gutes zu vermelden.

Unsere 8 Milliarden Menschen zählende Welt könnte für einige der ärmsten Länder mit dem höchsten Bevölkerungswachstum enorme Chancen eröffnen.Schon relativ niedrige Investitionen in Gesundheitsversorgung, Bildung, Gleichstellung der Geschlechter und eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung könnten einen positiven Kreislauf von Entwicklung und Wachstum in Gang setzen, der Volkswirtschaften und Menschenleben grundlegend verändert.

Innerhalb weniger Jahrzehnte könnten sich die heute ärmsten Länder zu den Motoren eines nachhaltigen, grünen Wachstums und des Wohlstands in ganzen Regionen entwickeln.

Ich wette nie gegen den menschlichen Erfindungsgeist, und ich habe großes Vertrauen in die menschliche Solidarität. In diesen schwierigen Zeiten tun wir gut daran, uns die Worte Mahatma Gandhis, eines der weisesten Beobachter der Menschheit, ins Bewusstsein zu rufen: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier“.

Die großen globalen Treffen dieses Monats müssen eine Gelegenheit sein, Gräben zu überwinden und Vertrauen wiederherzustellen, aufbauend auf den gleichen Rechten und Freiheiten eines jeden der 8 Milliarden Menschen auf der Welt.

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Der Autor ist Generalsekretär der Vereinten Nationen

Eine Version des Artikels wurde in Der Standard am 15. November 2022 veröffentlicht.