UNIS/SG/2772
29. Januar 2001

   Generalsekretär Kofi Annan:

Offene Märkte können nur Bestand haben, wenn sie auf gemeinsamen Werten und globaler Solidarität beruhen

Rede vor dem Weltwirtschaftsforum, Davos

Lassen Sie mich zunächst unserem Freund Klaus Schwab für seine freundliche Einführung und für die neuerliche Einladung nach Davos danken.

Vor zwei Jahren habe ich hier über die Fragilität der Globalisierung gesprochen. Manche von Ihnen haben wahrscheinlich gedacht, dass ich dabei zu schwarz gesehen hätte. Aber ich glaube, die seither eingetretenen Ereignisse haben gezeigt, dass meine Sorge gerechtfertigt war.

Nicht die Proteste, die wir erlebt haben, sind es, die eine Herausforderung für uns darstellen, sondern die Stimmung in der Öffentlichkeit, der diese Proteste Ausdruck verleihen und zu deren Verbreitung sie beitragen. Für viel zu viele Menschen in unserer heutigen Welt erscheint größere Offenheit als drohende Gefahr - als Gefahr für ihren Lebensunterhalt, für ihre Lebensart und für die Dienstleistungen und Schutzfunktionen, die sie von ihrer Regierung erwarten. Auch wenn es übertrieben und unangebracht erscheint: "Furcht hat große Augen", sagt ein russisches Sprichwort. Und, so könnten wir hinzufügen, sie findet auch das Ohr der Regierungen, die sich zu Reaktionen gezwungen sehen.

Es stimmt nicht, dass viele Menschen den Globalisierungsprozess gerne umkehren wollen, aber sie wollen eine andere, eine bessere Globalisierung, als wir sie heute haben.

Das war die entscheidende Botschaft, die vom Millenniumsgipfel der Vereinten Nationen im vergangenen September ausging, der größten jemals abgehaltenen Versammlung von Staats- und Regierungschefs. Das Ziel dieses Gipfels war es, die zentralen Prioritäten der Vereinten Nationen im neuen Jahrhundert zu überdenken. Keine Aufgabe erschien dabei wichtiger als die Notwendigkeit, die Globalisierung allen Menschen der Welt zugute kommen zu lassen.

Sie, die Sie hier versammelt sind, halten es vielleicht für selbstverständlich, dass die Globali-sierung das erreichen kann und auch erreichen wird. Aber draußen, in einer Welt, in der die Hälfte unserer Mitmenschen mit weniger als zwei Dollar pro Tag um ihr Überleben kämpft, wo für die Gesundheitsprobleme von 90% der Weltbevölkerung weniger als 10% der globalen Ausgaben für Gesundheitsforschung zur Verfügung stehen, dort ist es viel schwieriger, die Menschen davon zu überzeugen.

Versuchen Sie doch einmal sich vorzustellen, was die Globalisierung für die Hälfte der Menschheit bedeuten kann, die noch nie in ihrem Leben ein Telefongespräch geführt oder einen Anruf erhalten hat; oder für die Bevölkerung in Afrika südlich der Sahara, wo weniger Menschen Zugang zum Internet haben als im Stadtteil Manhattan.

Und wie erklären Sie, vor allem unserer Jugend, warum zu Beginn des 21. Jahrhunderts die weltweiten Regeln für den Schutz des geistigen Eigentums viel härter sind als für den Schutz grundlegender Menschenrechte?

Meine Freunde, es geht doch einfach darum: Wenn es uns nicht gelingt, die Globalisierung für alle funktionieren zu lassen, dann wird sie letztlich für niemanden funktionieren. Die unausgewogene Verteilung des Nutzens der Globalisierung und die Ungleichgewichte bei der Festsetzung globaler Regeln, die die Globalisierung heute kennzeichnen, werden zwangsläufig zu Rückschlägen und zu Protektionismus führen. Und diese wiederum gefährden die offene Weltwirtschaft, die im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts so mühsam errichtet wurde, und drohen, sie auszuhöhlen, letztendlich bis zu ihrer Desintegration.

Auf dem Millenniumsgipfel haben sich unsere Staats- und Regierungschef entschlossen, diese Kluft zu schließen und die weltweite Armut bis zum Jahr 2015 zu halbieren.

Aber der Gipfel hat auch eingeräumt, dass die Regierungen allein dieses Ziel nicht erreichen können. In ihrer Millenniumserklärung haben die politischen Führer dieser Welt daher den Vorschlag unterstützt, starke Partnerschaften mit dem Privatsektor und mit Organisationen der Zivilgesellschaft einzugehen, um sich für die gemeinsamen Ziele der ganzen Menschheit einzusetzen.

In der Tat haben wir bei der Förderung solcher Partnerschaften gute Fortschritte gemacht. Sie erinnern sich vielleicht daran, dass ich hier auf dem Weltwirtschaftsforum vor zwei Jahren einen globalen Pakt vorgeschlagen und die Manager großer Unternehmen eingeladen habe, ihren Teil zum Aufbau der fehlenden sozialen Infrastruktur der neuen Weltwirtschaft beizutragen. Heute möchte ich auf diesen Gedanken zurückgreifen und ihn weiter entwickeln.

Ich habe die Manager gebeten, nicht erst auf die Verabschiedung neuer Gesetze durch die Regierungen zu warten, sondern von sich aus die Initiative zur Verbesserung ihrer Unternehmens-praktiken zu ergreifen. Insbesondere habe ich Sie eingeladen, sich im Rahmen Ihrer Unternehmen für neun zentrale Werte einzusetzen und diese zu verwirklichen - Werte, die in allgemein anerkannten Abkommen über Menschenrechte, Arbeitsnormen und Umweltschutz verankert sind. Und ich habe Ihnen dazu die Unterstützung durch die zuständigen Organisationen der Vereinten Nationen angeboten.

Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, dass zahlreiche Wirtschaftsführer positiv auf diese Einladung reagiert und - was von gleicher Wichtigkeit ist - den Wert der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft zur Erreichung dieser Ziele erkannt haben.

Dem Globalen Pakt gehören heute daher nicht nur führende Unternehmen aus aller Welt an, sondern auch die Internationale Konföderation Freier Gewerkschaften und rund ein Dutzend führender Freiwilligenverbände, die sich aktiv für die Einhaltung der Menschenrechte, den Umwelt-schutz und die Förderung der Entwicklung engagieren. Gemeinsam arbeiten sie daran, "gute Praktiken" aufzuzeigen und zu fördern und helfen damit schlechte Praktiken zu beseitigen. Der Pakt ist kein Lenkungsinstrument oder Verhaltenskodex, sondern eine Plattform zum Lernen und für den gemeinsamen Erfahrungsaustausch darüber, was funktioniert und was nicht funktioniert.

Im vergangenen Juli sind Vertreter aus allen drei Bereichen zu den Vereinten Nationen nach New York gekommen. Wir haben uns darauf geeinigt, wie wir den Pakt voran bringen wollen und wir haben uns zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2002 tausend Großunternehmen zur Mitarbeit zu gewinnen.

Mit großer Freude darf ich Ihnen heute bekanntgeben, dass Herr Göran Lindahl, der bis vor kurzem Vorstandsvorsitzender von ABB war, meiner Einladung Folge geleistet hat und die Leitung dieser Bemühungen um die Gewinnung der Mitarbeit neuer Konzerne übernehmen wird. Als mein Sonderberater für den Globalen Pakt wird mich Herr Lindahl auch strategisch beraten. Er bringt für diese neue herausfordernde Aufgabe nicht nur seine Erfahrungen aus einer sehr erfolgreichen Wirtschaftskarriere mit, sondern auch sein starkes persönliches Engagement für die soziale Verantwortung von Unternehmen und deren Rolle als "gute Weltbürger".

Der Pakt hat auch bereits zu vielen greifbaren Projekten geführt, die von der Investitions-förderung in den am wenigsten entwickelten Ländern bis zur Förderung der Menschenrechte am Arbeitsplatz reichen. Aber wir können hier noch viel mehr tun, damit die Chancen der Globalisierung von mehr Menschen genutzt und auch gewürdigt werden.

In vielen Teilen der Welt sind gewaltsame, zerstörerische Konflikte das größte Hindernis für den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt.

Dies fällt natürlich in erster Linie in die Verantwortung der Regierungen. Aber auch Privat-unternehmen, die in diesen Konfliktregionen wirtschaftlich tätig sind, sollten sehr auf verant-wortungsvolles Handeln achten und Bedacht darauf nehmen, die Chancen für den Frieden zu verbessern oder zumindest den Konflikt nicht weiter anzuheizen. De Beers hat mit seiner Reaktion auf die Kritik am Diamantenhandel in Afrika und seinem Entschluss, dafür zu sorgen, dass Diamantenhändler und Kunden nicht länger unwissentlich zur Finanzierung der Kriegsherren beitragen, ein gutes Beispiel gegeben. Im Rahmen des Globalen Paktes wollen wir jetzt unseren ersten thematischen Dialog aufnehmen. Es geht dabei darum, ein gemeinsames Verständnis unter allen Akteuren über die geeignete Rolle zu schaffen, die Unternehmen in Konfliktgebieten spielen können und sollen.

Ich halte den Globalen Pakt für ein faszinierendes Projekt. Es kann dazu beitragen, die Welt zu verändern - wenn auch nur in kleinen Schritten. Ich hoffe daher, dass alle heute hier versammelten Wirtschaftsführer, wenn Sie nicht ohnedies schon dabei sind, sich bald diesem Projekt anschließen werden.

Und ich hoffe gleichermaßen, dass jene Vertreter von Organisationen der Zivilgesellschaft, die den Pakt kritisiert haben, zu der Erkenntnis gelangen, dass für uns in den Vereinten Nationen die Gewinnung des Privatsektors keine Option darstellt, sondern ein zwingendes Erfordernis. Das gilt für diese wie für andere Aufgaben. Wir müssen alle entscheidenden gesellschaftlichen Akteure, die etwas bewirken können, zur Mitarbeit gewinnen.

Nur durch effiziente Partnerschaften können wir Seuchen und Epidemien besiegen, die ein so erbarmungsloser Feind im Alltagsleben der Entwicklungsländern sind. Ich bin mir nicht sicher, ob irgendjemand von uns bereits das volle Ausmaß des Schreckens der HIV/AIDS-Seuche in Afrika erfasst hat, weder in ihrer menschlichen noch in ihrer ökonomischen Dimension. In manchen Ländern hat diese Krankheit ganze Generationen vernichtet. Das bürdet uns allen die gewaltige Verpflichtung auf, alles zu tun, was in unserer Kraft steht, um den bereits Infizierten zu helfen und, vor allem, um der weiteren Ausbreitung des Virus Einhalt zu gebieten.

Investitionen, nicht nur auf dem Gebiet der Medizin, sondern in allen Bereichen, sind für die Entwicklungswelt von entscheidender Bedeutung. Die einzigen Entwicklungsländer, die sich wirklich entwickeln, sind jene, die maßgebliche ausländische Investitionen anziehen und die heimische Sparrate und Ressourcen ihrer eigenen Bürger mobilisieren konnten.

Leider trifft das nur auf eine Hand voll Länder zu. Der Rest der Entwicklungswelt, vor allem die am wenigsten entwickelten Länder, geht praktisch zur Gänze leer aus, obwohl viele von ihnen sehr einladende gesetzliche Rahmenbedingungen für ausländische Investitionen geschaffen haben und sich außerordentlich um solche Investitionen bemühen.

Wenn sie trotzdem keinen Erfolg hatten, dann lag das oft an der mangelnden Infrastruktur oder daran, dass ihre Märkte zu klein oder zu weit entfernt sind, um von Interesse zu sein. Lokale Märkte müssen den Wettbewerb im globalen Markt aufnehmen und dieser ist unerbittlich.

Auch hier können internationale Unternehmen zur Veränderung beitragen. Gemeinsam und in Zusammenarbeit mit den Regierungen können sie die Risiken und Kosten der Wirtschafts-beziehungen mit den am wenigsten entwickelten Ländern verringern und Informationen über Investitionschancen in diesen Ländern verbreiten.

Ein weiterer wichtiger Bereich, in dem Partnerschaften einen enormen Fortschritt für die Entwicklungsländer bringen können, ist die Informationstechnologie. Ich habe eine kleine Berater-gruppe eingesetzt, die Mittel und Wege für die Überbrückung der "digitalen Kluft" finden soll. Einige Berater sind heute hier anwesend. Ihnen und allen anderen, die bereit waren, mit mir in dieser Frage, die ich für so entscheidend für die Zukunft vieler armer Länder halte, zusammenzuarbeiten, gilt mein besonderer Dank.

Das Engagement der Wirtschaftsführer als Fürsprecher ist gleichermaßen wichtig. Um wirksamer an der globalen Wirtschaft teilnehmen zu können, brauchen die Entwicklungsländer vor allem:

Diese umfassendere gesellschaftliche Rolle als Partner und Fürsprecher mag für die Welt der Unternehmen vielleicht etwas relativ Neues sein, aber sie kann nicht länger fein säuberlich von den Modellen der bisher üblichen Wirtschaftstätigkeit getrennt oder bloß als eine Frage der Menschenfreundlichkeit gesehen werden. Die Unternehmen erkennen, dass mit der Globalisierung der Märkte auch die soziale Verantwortung von Unternehmen in Idee und Praxis global gesehen werden muss. Und sie entdecken, dass das Richtige zu tun, letztendlich auch gut für das Geschäft ist.

Mit anderen Worten: Die Fragilität der Globalisierung, von der ich gesprochen habe, ist eine direkte Herausforderung an das Selbstinteresse der Privatwirtschaft. Und ein ganz wesentlicher Teil der Lösung ist, dass Sie auch die Pflichten - und nicht nur die Chancen - des Weltbürgertums akzeptieren.

Sie alle, die Sie hier versammelt sind - als Führungskräfte der Privatwirtschaft wie der Organisationen der Zivilgesellschaft - müssen zu der Erkenntnis gelangen, dass Sie die Vorreiter der globalen Gesellschaft von morgen sind, in der es offene Märkte geben muss - aber offene Märkte, die voll auf gemeinsamen Werten und globaler Solidarität beruhen. Sie sind die ersten wirklichen Weltbürger und nur Sie können diesem Begriff eine echte Bedeutung geben, wenn Sie durch Ihr Handeln und Ihre Fürsprache dafür sorgen, dass jeder Mensch, ob reich oder arm, die Chance hat, die Vorteile der Globalisierung zu nutzen.

Dabei, meine Freunde, haben Sie meine vollste Unterstützung und die Unterstützung der Vereinten Nationen!

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