SG/SM/9686
25. Januar 2005

“Ein solcher Horror darf nie wieder zugelassen werden” – Kofi Annan ruft Generalversammlung zum Gedenken an die Befreiung der Nazi-Todeslager auf

NEW YORK, 24. Januar (UNO-Hauptquartier) -- UNO-Generalsekretär Kofi Annan wandte sich heute mit folgender Ansprache an die ausserordentliche Sitzung der Generalversammlung anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung der Nazi Todeslager:

Das Datum für diese Sitzung wurde gewählt, um dem 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zu gedenken. Es gab aber, wie Sie wissen, viele andere Lager, die im Winter und Frühjahr 1945 eines nach dem anderen den alliierten Streitkräften zufielen.

Nur allmählich hat die Welt die wirklichen Dimensionen des Greuels erfahren, das in diesen Lagern geschehen ist. Die Entdeckung war noch frisch in den Köpfen der Delegierten in San Francisco, als diese Organisation gegründet wurde. Die Vereinten Nationen dürfen nie vergessen, dass sie als Antwort auf den Horror des Faschismus gegründet wurden, und dass der Schrecken des Holocaust ihr Mandat mitbestimmt hat. Diese Antwort steht in unserer Charta geschrieben und in der Menschenrechtserklärung.

Die Lager, Herr Präsident, waren nicht bloße “Konzentrationslager”. Lasst uns nicht die verklärte Sprache jener verwenden, die sie gebaut haben. Der Zweck der Lager war nicht, eine Gruppe an einem Ort zu “konzentrieren”, so als wolle man sie überwachen. Ein ganzes Volk sollte ausgelöscht werden.

Daneben gab es andere Opfer. Die Roma oder etwa die Zigeuner -- sie wurden mit derselben Verachtung ihres Menschseins behandelt wie die Juden. Fast ein Viertel der einen Million in Europa lebenden Roma wurde getötet.

Polen und andere Slaven, sowjetische Kriegsgefangene, geistig oder körperlich behinderte Menschen wurden gleichermaßen kaltblütig umgebracht. Andere Gruppen, etwa die Zeugen Jehovas und Homosexuelle, wie auch politische Gegner und viele Schriftsteller und Künstler wurden mit erschreckender Brutalität behandelt.

Wir schulden all diesen Menschen Respekt, indem wir unsere besonderen Anstrengungen deutlich machen, mit denen wir Gemeinschaften schützen, die ähnlich bedroht werden und verletzbar sind -- heute und in der Zukunft.

Die Tragödie der Juden war jedoch einzigartig. Zwei Drittel aller Juden Europas, einschließlich anderthalb Millionen Kinder, wurden ermordet. Eine ganze Zivilisation, die weit über ihren Bevölkerungsanteil hinaus zum kulturellen und intellektuellen Reichtum Europas und der Welt beigetragen hat, wurde entwurzelt, zerstört und zunichte gemacht.

In einem Augenblick werden wir die Ehre haben, von einem der Überlebenden zu hören, von meinem lieben Freund Elie Wiesel. Elie hat geschrieben, “nicht alle Opfer waren Juden, aber alle Juden waren Opfer”. Es ist daher angebracht, dass Israel heute als erster Staat spricht -- ein Staat, der wie die Vereinten Nationen selbst aus der Asche des Holocaust erstanden ist.

Der Holocaust entstand als Höhepunkt einer langen, schändlichen Geschichte antisemitischer Verfolgung, von Progromen, institutionalisierter Diskriminierung und anderer Formen von Herabsetzung. Diese Protagonisten des Hasses waren nicht immer -- und werden sicher auch in der Zukunft nicht immer -- Extremisten am Rande der Gesellschaft sein.

Wie konnten solche Grausamkeiten geschehen in einem kultivierten und modernen Nationalstaat im Herzen Europas, dessen Künstler und Denker der Welt so viel gaben? Es wurde richtigerweise gesagt, dass “zum Triumph des Bösen eigentlich nur gute Menschen, die nichts tun, benötigt werden”. Es gab gute Männer und Frauen, die etwas getan haben: Deutsche wie Gertrude Luckner und Oskar Schindler, Ausländer wie Meip Geis, Chiune Sugihara, Selahattin Uelkuemen und Raoul Wallenberg. Aber nicht genug, nicht annähernd genug. Solch ein Greuel darf nie wieder zugelassen werden. Wir müssen auf der Hut sein vor jeglicher Wiedergeburt des Antisemitismus und bereit  sein, jeder neuen Form des Antisemitismus, die heutzutage auftreten kann, entgegenzuwirken.

Diese Verpflichtung verbindet uns nicht nur mit den Juden, sondern auch mit all jenen, die durch ein ähnliches Schicksal bedroht wurden oder bedroht werden könnten. Wir müssen wachsam gegenüber allen Ideologien sein, die auf Hass und Ausschluss basieren, wo immer und wann immer sie auftreten können.

Bei Gelegenheiten wie dieser ist es einfach, eine Rede zu halten. Wir sagen zurecht “nie wieder”. Aber Taten  sind viel schwieriger. Seit dem Holocaust hat die Welt zu ihrer Schande mehr als einmal versagt, wenn es darum ging, einen Völkermord zu verhindern oder aufzuhalten -- zum Beispiel in Kambodscha, in Ruanda und im früheren Jugoslawien.

Selbst heute erleben wir viele schreckliche Beispiele für Unmenschlichkeit in der Welt. Es ist nicht einfach zu entscheiden, worauf wir uns vorrangig konzentrieren und genau zu entscheiden, welcher Ansatz erfolgreich sein wird, um Opfer zu schützen und ihnen eine sichere Zukunft zu geben. Es ist leicht zu sagen, dass “etwas getan werden muss”. Zu sagen, was genau, wann und wie, und es dann auch zu tun, ist sehr viel schwieriger.

Aber, wir dürfen keinesfalls verleugnen, was passiert, oder gleichgültig bleiben, wie es so viele taten, als die Todesfabriken der Nazis ihre entsetzliche Arbeit verrichteten. Furchtbare Dinge geschehen heute in Darfur im Sudan. Morgen erwarte ich den Bericht der internationalen Untersuchungskommission, die ich im Auftrag des Sicherheitsrates eingerichtet habe. Dieser Bericht wird festlegen, ob in Darfur Völkermord geschehen ist oder nicht. Ebenso, und das ist nicht weniger wichtig, wird dieser Bericht die schweren Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht und gegen die Menschenrechte darlegen, Verstöße, die zweifelsohne geschehen sind. Sobald der Sicherheitsrat diesen Report erhalten hat, wird er entscheiden müssen, wie jene, die sich schuldig gemacht haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Dies ist eine sehr schwere Verantwortung.

Am heutigen Tag gedenken wir der Opfer des Holocaust -- Opfer, die nie eine Wiedergutmachung erfahren werden, jedenfalls nicht in dieser Welt.

Es ist ein Tag, der uns dazu anhält, die Gründer der Vereinten Nationen zu würdigen -- die alliierten Staaten, deren Truppen gekämpft haben und gefallen sind, um den Faschismus zu besiegen. Diese Truppen sind heute durch Veteranen vertreten, welche die Lager befreit haben, wie mein guter Freund und Kollege, Sir Brian Urquart.

Es ist ein Tag zum Gedenken der mutigen Menschen, die ihr Leben riskierten -- und es manchmal auch opferten, um ihre Mitmenschen zu retten. Ihr Beispiel verpflichtet uns zu Menschlichkeit und muss unsere Haltung bestimmen.

Es es ein Tag zum Gedenken der Überlebenden, die heldenhaft die Pläne der Unterdrücker durchkreuzten und damit der Welt und dem jüdischen Volk ein Zeichen der Hoffnung brachten. Im Laufe der Zeit wird die Zahl der Überlebenden immer kleiner. Es obliegt uns als Nachfolgegeneration, die Erinnerung wie eine Fackel wachzuhalten und unser eigenes Leben in ihrem Licht zu führen.

Es ist vor allem ein Tag, an dem nicht nur der Opfer von Schreckenstaten der Vergangenheit gedacht werden soll, sondern auch heutiger und künftiger Opfer. Es ist ein Tag, diesen Opfern in die Augen zu sehen und zu sagen: “Du, wir dürfen nicht versagen.”

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