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UNIS/INF/575
9. Juli 2021
Seit Beginn der COVID-19-Pandemie ist viel von globaler Solidarität die Rede. Worte allein werden jedoch weder die Pandemie beenden noch die Folgen der Klimakrise eindämmen. Es ist an der Zeit, Solidarität in der Praxis unter Beweis zu stellen. Bei ihrem Treffen in Venedig sehen sich die Finanzministerinnen und -minister der G20 in dreifacher Weise gefordert, Solidarität zu zeigen, nämlich im Hinblick auf Impfstoffe, einen wirtschaftlichen Rettungsanker für die Entwicklungsländer und den Klimaschutz.
Impfstoffe sind der erste Solidaritätstest. Ein globales Impfdefizit gefährdet uns alle, denn solange COVID-19 unter den nicht Geimpften grassiert, mutiert das Virus weiter und entwickelt Varianten, die ansteckender, tödlicher oder beides zugleich sein können. Wir befinden uns mitten in einem Wettlauf zwischen Impfstoffen und Varianten. Gewinnen die Varianten, könnte die Pandemie Millionen weiterer Opfer fordern und eine globale wirtschaftliche Erholung um Jahre verzögern.
In einigen entwickelten Ländern sind bereits 70 Prozent der Bevölkerung geimpft, wohingegen der Anteil in Ländern mit niedrigem Einkommen weniger als 1 Prozent beträgt. Solidarität heißt, den Zugang zu Impfstoffen für alle zu gewährleisten – und zwar schnell.
Sowohl Impfstoffe als auch Finanzmittel sind hochwillkommen. Aber reden wir Klartext. Eine Milliarde Dosen reichen nicht aus. Wir brauchen mindestens elf Milliarden, um 70 Prozent der Weltbevölkerung zu impfen und die Pandemie zu beenden. Spenden und gute Absichten werden uns nicht weiterbringen. Was wir brauchen, sind die größten jemals unternommenen Anstrengungen im Bereich der globalen öffentlichen Gesundheit.
Die G20 muss mit Unterstützung der wichtigsten Herstellerländer und der internationalen Finanzinstitutionen einen globalen Impfplan auf den Weg bringen, über den alle Menschen weltweit so schnell wie möglich erreicht werden.
Der zweite Solidaritätstest besteht darin, Ländern, die am Rande der Zahlungsunfähigkeit stehen, einen wirtschaftlichen Rettungsanker zu bieten.
Während die reichen Länder das Äquivalent von 28 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in die Überwindung der COVID-19-Krise gesteckt haben, waren es in den Ländern mit mittlerem Einkommen nur 6,5 Prozent und in den am wenigsten entwickelten Ländern nicht einmal 2 Prozent.
Viele Entwicklungsländer stehen in dieser Zeit angespannter Staatshaushalte und eingeschränkter Steuereinnahmen vor erdrückenden Schuldendienstkosten.
Durch die Pandemie dürfte die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen weltweit um etwa 120 Millionen steigen. Mehr als drei Viertel dieser „neuen Armen“ leben in Ländern mit mittlerem Einkommen.
Diese Länder brauchen Hilfe, um eine Finanzkatastrophe zu vermeiden und in einen starken Wiederaufschwung zu investieren.
Der Internationale Währungsfonds ist mit einer Zuteilung von 650 Milliarden Dollar an Sonderziehungsrechten eingeschritten. Diese Sonderziehungsrechte sind der beste Weg, um die für liquiditätsschwache Volkswirtschaften verfügbaren Mittel zu erhöhen. Reichere Länder sollten ihre ungenutzten Sonderziehungsrechte an Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen übertragen. Dies wäre wahre Solidarität.
Ich begrüße die Schritte, die die G20 bereits unternommen hat, darunter die Initiative zur Aussetzung des Schuldendiensts und der Gemeinsame Rahmen für den Umgang mit Schulden. Diese Schritte reichen jedoch nicht aus. Alle Länder mit mittlerem Einkommen, die Schuldenerleichterungen benötigen, müssen diese auch erhalten. Und auch private Kreditgeber müssen mit ins Boot geholt werden.
Der dritte Solidaritätstest betrifft den Klimawandel. Die meisten großen Volkswirtschaften haben zugesagt, ihre Emissionen bis Mitte des Jahrhunderts entsprechend dem 1,5-Grad-Ziel des Übereinkommens von Paris auf Netto-Null zu senken. Wenn die Weltklimakonferenz COP26 in Glasgow zum Wendepunkt werden soll, bedarf es einer solchen Zusage von allen G20-Ländern sowie den Entwicklungsländern.
Letztere brauchen jedoch die Zusicherung, dass sie bei ihren Bestrebungen finanzielle und technische Unterstützung erhalten, darunter auch die jährlich 100 Milliarden Dollar an Klimafinanzierung, die ihnen die entwickelten Länder vor mehr als einem Jahrzehnt versprochen hatten. Das ist nur gerecht, denn Entwicklungsländern von der Karibik bis zum Pazifik sind durch Treibhausgase, die über einhundert Jahre hinweg ohne ihre Mitwirkung ausgestoßen wurden, enorme Infrastrukturkosten entstanden.
Solidarität beginnt mit der Bereitstellung der zugesagten 100 Milliarden Dollar. Darüber hinaus sollten 50 Prozent der gesamten Klimafinanzierung in Anpassungsmaßnahmen investiert werden, darunter in widerstandsfähige Häuser, Hochstraßen und effiziente Frühwarnsysteme, die Stürmen, Dürren und anderen extremen Wetterereignissen standhalten können.
Alle Länder haben während der Pandemie gelitten. Nationalistische Ansätze in Bezug auf globale öffentliche Güter wie Impfstoffe, Nachhaltigkeit und Klimaschutz führen jedoch in den Ruin.
Doch die G20 kann uns den Weg aus der Krise bahnen. Die nächsten sechs Monate werden zeigen, ob die globale Solidarität sich in Worten erschöpft oder in konstruktives Handeln mündet. Wenn die führenden Köpfe der G20 diese drei kritischen Tests mit politischem Willen und verantwortlicher Führungsstärke meistern, können sie die Pandemie beenden, die Grundlagen der Weltwirtschaft stärken und die Klimakatastrophe verhindern.
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Der Autor ist Generalsekretär der Vereinten Nationen
Eine Version des Artikels wurde in Wiener Zeitung am 9. Juli 2021 veröffentlicht.