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UNIS/INF/577
30. Oktober 2021

Der Klimatest von Glasgow

von António Guterres

Die Klimakrise ist die Alarmstufe rot für die Menschheit.

Die Staats- und Regierungschefs der Welt werden bald auf der UN-Klimakonferenz –

der COP26 – in Glasgow auf die Probe gestellt werden.

Ihr Handeln – oder Nichthandeln – wird zeigen, wie ernst es ihnen mit der Bewältigung dieser Notlage des Planeten ist.

Die Warnzeichen sind unübersehbar: Die Temperaturen erreichen überall neue Höchstwerte, die biologische Vielfalt erreicht neue Tiefstwerte, die Ozeane erwärmen sich, versauern und ersticken in Plastikmüll. Steigende Temperaturen werden bis zum Ende des Jahrhunderts weite Teile unseres Planeten zu toten Zonen für die Menschheit machen.

Und die angesehene medizinische Fachzeitschrift The Lancet beschrieb den Klimawandel kürzlich als die "bestimmende Geschichte der menschlichen Gesundheit" in den kommenden Jahren – eine Krise, die durch weit verbreiteten Hunger, Atemwegserkrankungen, tödliche Katastrophen und Ausbrüche von Infektionskrankheiten gekennzeichnet sein wird, die noch schlimmer sein könnten als COVID-19.

Obwohl die Alarmglocken schrillen, enthalten die jüngsten UN-Berichte neue Beweise dafür, dass die bisherigen Maßnahmen der Regierungen einfach nicht ausreichen, um das zu tun, was so dringend nötig ist.

Die jüngsten Ankündigungen von Klimaschutzmaßnahmen sind begrüßenswert und unabdingbar – aber dennoch ist unsere Welt auf dem Weg zu einem katastrophalen globalen Temperaturanstieg von weit über 2 Grad Celsius.

Dies ist weit entfernt von dem 1,5-Grad-Ziel, auf das sich die Welt im Rahmen des Pariser Abkommens geeinigt hat – ein Ziel, das nach wissenschaftlichen Erkenntnissen der einzig nachhaltige Weg für unsere Welt ist.

Dieses Ziel ist absolut erreichbar. 

Wenn es uns gelingt, die globalen Emissionen in diesem Jahrzehnt um 45 Prozent gegenüber dem Stand von 2010 zu senken.

Wenn wir bis 2050 weltweit eine Netto-Null-Emission erreichen können.

Und wenn die Staats- und Regierungschefs der Welt in Glasgow mutige, ehrgeizige und überprüfbare Ziele für 2030 und neue, konkrete Maßnahmen zur Umkehrung dieser Katastrophe beschließen.

Vor allem die Staats- und Regierungschefs der G20 müssen liefern.

Die Zeit für diplomatische Nettigkeiten ist vorbei.

Wenn die Regierungen – insbesondere die G20-Regierungen – nicht aufstehen und sich an die Spitze dieser Bemühungen stellen, wird uns schreckliches menschliches Leid bevorstehen.

Aber alle Länder müssen erkennen, dass das alte, kohlenstoffverbrennende Entwicklungsmodell ein Todesurteil für ihre Volkswirtschaften und unseren Planeten ist.

Wir brauchen die Dekarbonisierung jetzt, in jedem Sektor und in jedem Land. Wir müssen die Subventionen für fossile Brennstoffe auf erneuerbare Energien umstellen und die Umweltverschmutzung besteuern, nicht die Menschen.  Wir müssen einen Preis auf Kohlenstoff erheben und diesen in widerstandsfähige Infrastrukturen und Arbeitsplätze investieren. 

Und wir müssen aus der Kohle aussteigen – bis 2030 in den OECD-Ländern und bis 2040 in allen anderen. Immer mehr Regierungen haben sich verpflichtet, keine Kohle mehr zu finanzieren - und der private Finanzsektor muss dringend das Gleiche tun.

Die Menschen erwarten zu Recht von ihren Regierungen, dass sie vorangehen. Aber wir alle haben die Verantwortung, unsere gemeinsame Zukunft zu sichern. 

Die Unternehmen müssen ihre Auswirkungen auf das Klima verringern und ihre Tätigkeiten und Finanzströme vollständig und glaubwürdig auf eine Netto-Null-Zukunft ausrichten. Keine Ausreden mehr; kein Greenwashing mehr.

Investoren – öffentliche wie private – müssen das Gleiche tun. Sie sollten sich Vorreitern wie der Net-Zero-Asset-Owner-Allianz und dem eigenen Pensionsfonds der Vereinten Nationen anschließen, der seine Ziele für 2021 mit einer 32-prozentigen Kohlenstoff-Reduzierung bei Investitionen in diesem Jahr vorzeitig und über das Ziel hinaus erreicht hat.

Die Menschen in jeder Gesellschaft müssen bessere und verantwortungsvollere Entscheidungen treffen, was sie essen, wie sie reisen und was sie kaufen.  

Und junge Menschen – und Klimaaktivisten - müssen das tun, was sie bereits tun: von ihren Politikern Maßnahmen fordern und sie zur Rechenschaft ziehen.

Wir brauchen globale Solidarität, um alle Länder bei diesem Wandel zu unterstützen.  Die Entwicklungsländer haben mit Schulden- und Liquiditätskrisen zu kämpfen. Sie brauchen Unterstützung.

Öffentliche und multilaterale Entwicklungsbanken müssen ihre Klimaportfolios deutlich aufstocken und ihre Bemühungen verstärken, um den Ländern beim Übergang zu einer widerstandsfähigen Netto-Null-Wirtschaft zu helfen. Die Industrieländer müssen dringend ihre Zusage einhalten, den Entwicklungsländern jährlich mindestens 100 Milliarden Dollar für Klimafinanzierung zur Verfügung zu stellen.

Geber und multilaterale Entwicklungsbanken müssen mindestens die Hälfte ihrer Klimafinanzierung für Anpassung und höhere Resilienz bereitstellen.

Die Vereinten Nationen wurden vor 76 Jahren gegründet, um einen Konsens für Maßnahmen gegen die größten Bedrohungen für die Menschheit zu schaffen. Aber selten waren wir mit einer Krise wie dieser konfrontiert – einer wirklich existenziellen Krise, die, wenn sie nicht angegangen wird, nicht nur uns, sondern auch künftige Generationen bedroht.

Es gibt nur einen Weg nach vorn. Eine 1,5-Grad-Zukunft ist die einzige lebensfähige Zukunft für die Menschheit.

Die Staats- und Regierungschefs müssen sich in Glasgow an die Arbeit machen, bevor es zu spät ist.

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Der Autor ist Generalsekretär der Vereinten Nationen

Eine Version des Artikels wurde in Der Standard am 30. Oktober 2021 veröffentlicht.