In den letzten fünfzig Jahren wurden im Kampf um die Rechte von Frauen viele Fortschritte erzielt.
Frauen und Mädchen haben Schranken niedergerissen, Stereotype überwunden und Fortschritte auf dem Weg zu einer gerechteren und stärker gleichberechtigten Welt vorangetrieben. Frauenrechte wurden endlich als grundlegende und allgemeine Menschenrechte anerkannt. Weltweit besuchen hunderte Millionen Mädchen mehr die Schule als zuvor. Wegweisende Vorreiterinnen haben überall auf der Welt gläserne Decken durchbrochen.
Doch die erzielten Fortschritte sind in Gefahr. Und eine vollständige Gleichberechtigung ist noch Lichtjahre entfernt.
Milliarden von Frauen und Mädchen sind von Ausgrenzung, Ungerechtigkeit und Diskriminierung betroffen, da unsere Gesellschaften nach wie vor von jahrtausendelanger männlicher Vorherrschaft geprägt sind. Die fortwährende Epidemie der geschlechtsspezifischen Gewalt ist eine Schande für die Menschheit. Mehr als vier Millionen Mädchen sind Schätzungen zufolge jedes Jahr der Gefahr einer Verstümmelung ihrer Genitalien ausgesetzt. Die Diskriminierung von Frauen und Mädchen ist in weiten Teilen der Welt nach wie vor vollkommen legal. Mancherorts wird Frauen dadurch der Besitz von Eigentum erschwert, andernorts können Männer ihre Frauen ungestraft vergewaltigen.
Unterdessen sind Frauen und Mädchen am stärksten von globalen Krisen betroffen. Konflikte, Klimakatastrophen, Armut oder Hunger treffen Frauen und Mädchen immer besonders hart. In allen Regionen der Welt leiden Frauen häufiger an Hunger als Männer. Sowohl in den entwickelten Ländern als auch in den Entwicklungsländern regt sich Widerstand gegen Frauenrechte, auch gegen die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen, wodurch Fortschritte gebremst und rückgängig gemacht werden.
Neue Technologien, die großes Potenzial haben, Ungleichheiten zu beseitigen, verschlimmern die Situation allzu oft. Grund dafür können ein ungleicher Zugang, Algorithmen mit eingebauter geschlechtsspezifischer Voreingenommenheit oder frauenfeindliche Gewalt sein – von Deepfakes bis hin zur gezielten Belästigung bestimmter Frauen.
Beim derzeitigen Tempo werden wir die volle rechtliche Gleichberechtigung der Frauen in etwa dreihundert Jahren erreichen. Das gilt auch für das Ende der Kinderheirat. Das Tempo des Wandels ist offen gesagt eine Beleidigung. Es kann nicht sein, dass die Hälfte der Menschheit noch Jahrhunderte auf ihre Rechte warten muss. Wir brauchen schon heute Gleichberechtigung. Dies bedeutet, dass wir rascher Fortschritte erzielen müssen. Das wiederum setzt politischen Ehrgeiz und Investitionen voraus – das Motto des diesjährigen Internationalen Tages der Frau.
Wir brauchen öffentliche und private Investitionen in Programme zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen, zur Gewährleistung menschenwürdiger Arbeit und zur Förderung der Inklusion und Führungsverantwortung der Frauen in den Bereichen digitale Technologien, Friedenskonsolidierung, Klimaschutz und in allen Wirtschaftssektoren. Außerdem müssen wir dringend Frauenrechtsorganisationen unterstützen, die gegen Stereotype ankämpfen, sich dafür einsetzen, dass Frauen und Mädchen Gehör finden, und Traditionen und kulturelle Normen hinterfragen. Gegenwärtig erhalten sie gerade einmal 0,1 Prozent der internationalen Entwicklungsausgaben. Das muss sich ändern.
Investitionen mögen nicht viel mit dem tagtäglichen Leben von Frauen zu tun haben. Doch es bedarf Investitionen, um Schülerinnen die gleichen Chancen zu eröffnen wie Schülern. Es bedarf Investitionen, um digitale Bildung anzubieten und Fähigkeiten zu entwickeln. Es bedarf Investitionen, um eine Kinderbetreuung zu gewährleisten, die es Betreuungspersonen ermöglicht, außer Haus einer bezahlten Arbeit nachzugehen, wobei die Betreuung meistens von den Müttern übernommen wird. Und es bedarf Investitionen, um inklusive Gemeinschaften und Gesellschaften aufzubauen, an denen Frauen und Mädchen aller Gesellschaftsgruppen vollumfänglich teilhaben können.
Investitionen in die Gleichberechtigung sind nicht nur moralisch richtig, sondern auch in finanzieller Hinsicht sinnvoll. Frauen beim Eintritt in den offiziellen Arbeitsmarkt zu unterstützen steigert das Wirtschaftswachstum, erhöht die Steuereinnahmen und erschließt neue Chancen für alle.
Damit wir die notwendigen Investitionen in Frauen und Mädchen tätigen können, sind drei Dinge erforderlich. Erstens: eine bessere Verfügbarkeit erschwinglicher, langfristiger Finanzmittel für nachhaltige Entwicklung und die Bewältigung der Schuldenkrise, unter der viele Entwicklungsländer leiden. Andernfalls fehlen den Ländern einfach die Mittel, um in Frauen und Mädchen zu investieren. Es müssen umgehend Maßnahmen ergriffen werden, um den Ländern, denen untragbare Schuldenrückzahlungen drohen, eine Atempause zu verschaffen und um die multilateralen Entwicklungsbanken zu veranlassen, wesentlich mehr private Finanzmittel zu erschwinglichen Kosten zu mobilisieren. Langfristig müssen wir die internationale Finanzarchitektur reformieren und sie viel stärker auf die Bedürfnisse der Entwicklungsländer ausrichten.
Zweitens müssen die Länder der Gleichberechtigung von Frauen und Mädchen Vorrang einräumen – in dem Bewusstsein, dass sie nicht nur eine Frage der Rechte ist, sondern die Grundlage für friedliche, florierende Gesellschaften bildet. Das bedeutet, dass die Regierungen aktiv gegen Diskriminierung vorgehen, in Programme zur Unterstützung von Frauen und Mädchen investieren und dafür sorgen müssen, dass politische Maßnahmen, Haushaltspläne und Investitionen ihren Bedürfnissen gerecht werden.
Drittens müssen wir die Zahl der Frauen in Führungspositionen erhöhen. Frauen in Machtpositionen können dazu beitragen, dass Investitionen in politische Maßnahmen und Programme gelenkt werden, die der Lebenswirklichkeit von Frauen und Mädchen Rechnung tragen. Ich bin besonders stolz darauf, dass wir seit Beginn meiner Amtszeit und zum ersten Mal in der Geschichte der Organisation im gesamten System der Vereinten Nationen eine paritätische Besetzung der Führungspositionen erreicht haben.
Gleichberechtigung ist längst überfällig. Für die Überwindung des Patriacharts müssen Gelder fließen: Lassen wir auf Worte Bares folgen!
Eine Version des Artikels wurde in Der Standard am 8.3.2024 veröffentlicht.